Der Psychopath

 

 

 

Dr. Franziska Löns

 

Psychotherapeutin

 

 

 

So steht es auf dem glänzenden Messingschild, neben meinem Praxiseingang. Bevor Sie danach fragen, ich bin mit dem berühmten Heidedichter weder verwandt noch verschwägert. Nein, wir tragen nur zufällig den gleichen Namen.

 

Mit Lyrik und  romantischen Geschichten habe ich auch nicht viel im Sinn; eher im Gegenteil. Ich bin stolz auf meinen analytischen Verstand. Sonst hätte ich mich wohl kaum für meinen Beruf entschieden. Ich bin stolz auf meinen Werdegang.

 

 

 

Als Tochter eines Handwerkers und einer Verkäuferin war es nicht leicht, ein Studium zu absolvieren.

 

Das Begabtenstipendium hat mir dann geholfen, dass ich während meiner Ausbildung ein Jahr im Ausland verbringen konnte. Ehrgeizig war ich immer und so bin ich heute da, wo ich immer hin wollte. Ich habe endlich eine eigene Praxis!

 

 

 

Die ersten Jahre in der Gemeinschaftspraxis mit zwei weiteren Kollegen waren allerdings sehr hilfreich. Ich konnte recht viele Berufserfahrungen sammeln, notfalls auch um fachlichen Rat bitten, und das finanzielle Risiko war auch überschaubar.

 

Aber ich wollte mehr, von Anfang an, und jetzt habe ich es endlich geschafft!

 

 

 

Ich habe auch gelernt, eine gewisse Distanz zu meinen Patienten aufzubauen, auch und gerade, wenn sie mir noch so sympathisch sind. Es ist ganz normal, dass einige Patienten sich in ihre Therapeuten verlieben, aber diese Liebe zu erwidern, verstößt gegen jedes Berufsethos. Bisher ist es mir auch nicht schwer gefallen, mich daran zu halten; obwohl schon einige interessante Männer meinen Weg gekreuzt haben.

 

Jetzt habe ich allerdings einen neuen Patienten, der stellt mich in jeder Weise vor ganz unerwartete Herausforderungen. Er ist so anders; in jeder Weise!

 

Er ist unberechenbar und widersprüchlich. Charmant und verbindlich kommt er mir vor und gleichzeitig hat er etwas Unheimliches im Blick – manchmal.

 

Zum ersten Mal in meinem Berufsleben  fühle ich mich angreifbar. Das darf und will ich ihn aber keineswegs spüren lassen! Er war erst zu  wenigen Sitzungen hier und über seine Kindheitserlebnisse sind wir bisher noch nicht hinausgekommen.

 

Ich spüre einfach, dass er mir noch Ärger oder womöglich gar echte Probleme bereiten wird. Warum er sich eigentlich in Behandlung begeben hat, damit ist er noch nicht  herausgerückt.

 

Nicht richtig jedenfalls, er hat nur angedeutet, dass er gewisse Schwierigkeiten mit den Frauen hat. Näher darauf eingegangen ist er bisher aber noch nicht.

 

„Sie werden alles noch früh genug erfahren“, hat er gesagt und vielsagend gelächelt. Ich habe das zunächst einmal so akzeptiert. Außerdem ist er Privatpatient, da kommt es auf ein paar Sitzungen mehr oder weniger nicht an – im Gegenteil!

 

Ich bin meinem Geld doch nicht böse, hat eine Tante von mir immer gesagt. Damit meinte sie, dass man so schnell nicht genug davon haben kann. Diese Maxime habe ich mir zu eigen gemacht.

 

Sie war eine kluge Frau, meine Tante und ich habe sie sehr gemocht!

 

 

 

Heute Abend hat Herr S. auch einen Termin. Wieder hat er darauf bestanden, der letzte Patient zu sein, weil es durchaus sein kann, dass er seine Therapiestunde überzieht.

 

In der Regel ist Monika, meine Sprechstundenhilfe ja immer bis zum Schluss dabei, aber heute hat ihr Sohn Geburtstag, deshalb hat sie darum gebeten, ausnahmsweise pünktlich gehen zu dürfen. Natürlich konnte ich ihr diesen Wunsch nicht abschlagen. Sie ist so zuverlässig und eine große Stütze für mich!

 

 

 

So kommt es, dass ich Herrn S. selbst in Empfang nehmen muss. Dieser Herr S. ist wirklich ein sehr merkwürdiger Typ.

 

Er bezahlt jede Sitzung sofort in bar, darauf hat er von Anfang an bestanden. Als Anschrift hat er ein Hotel in der Innenstadt angegeben, und dort wohnt er auch.

 

Das habe ich von Monika diskret nachprüfen lassen, vorsichtshalber. Er hat gesagt, er sei auf Wohnungssuche, aber ganz so eilig scheint er es damit zur Zeit noch nicht zu haben einen festen Wohnsitz zu bekommen.

 

Was  er beruflich macht, das hat er bisher auch noch nicht  preisgegeben, weil es angeblich nicht relevant ist für sein spezielles Problem, hat er nur dazu geäußert.

 

Außerdem fragt er auch vor jeder Sitzung erneut danach, ob meine ärztliche Schweigepflicht wirklich und unter allen Umständen gilt.

 

„Natürlich, das ist so wie für den Pfarrer das Beichtgeheimnis!“, habe ich ihm wiederholt erklärt.

 

Trotzdem fragt er mich jedes Mal wieder danach. Langsam werde ich wirklich neugierig auf sein Problem.

 

 

 

Als Herr S. eingetreten ist, bittet er darum, heute eine Doppelsitzung abhalten zu dürfen.

 

Na gut, dem habe ich zugestimmt, weil ich hoffe, er kommt nun endlich zum Kern der Sache. Zunächst berichtet er mir von seiner Schulzeit in einem vornehmen Internat. Dort war eine junge Lehrerin, in die hatte er sich verguckt und sie hatte offenbar auch mehr Sympathie für ihn, als für einen gewöhnlichen Schüler.

 

„Wie weit ist es denn mit Ihnen gegangen?“, hake ich vorsichtig nach.

 

„Zu weit, viel zu weit, aber dann wollte sie plötzlich nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hat sie mich fallen lassen, einfach so! Das konnte ich mir doch nicht gefallen lassen“, ist seine lapidare Antwort.

 

„Ja und dann, wie ging es dann weiter?“, frage ich gespannt.

 

„Das Internat war in Süddeutschland, in den Bergen. Wir machten einen Schulausflug und dabei ist sie tödlich verunglückt“, berichtet er achselzuckend.

 

„Wie schrecklich, das muss doch ein Schock für Sie gewesen sein!“, sage ich mitfühlend.

 

„Nein, nicht wirklich; ich wollte es ja so“, sagt er dazu und redet sofort weiter, ohne auf mein entsetztes Gesicht zu achten. Habe ich das tatsächlich richtig verstanden?

 

Aber ich wage es nicht, ihn jetzt zu unterbrechen, gerade in dem Moment, in dem er sich mir endlich öffnen will. Er erzählt also weiter.

 

 

 

Nach dem Abitur hat er studiert und sich in eine andere Studentin verliebt. Sie hatten eine kurze Beziehung und dann war wieder Schluss. Sie hatte damals einen anderen und er noch ihren Wohnungsschlüssel.

 

Diese erneute Zurückweisung konnte er nicht verkraften.

 

Er wusste, dass sie die Angewohnheit hatte, jeden Abend vor dem Schlafengehen noch ein Bad zu nehmen.

 

„Ja und dann habe ich vor ihrer Wohnungstür gewartet, bis im Bad das Licht anging und bin zu ihr gegangen. Den Rest hat er Föhn erledigt. Die Polizei hat später auf Selbstmord erkannt“, berichtet er weiter.

 

Bei diesen Worten wird es mir langsam heiß und kalt.

 

Sein Problem ist eindeutig! Mit Ablehnung kann er nicht umgehen, aber muss er gleich so weit gehen?

 

Natürlich nicht, rufe ich mich innerlich selbst zur Ordnung!

 

Aber schon redet er wieder weiter und  erzählt mir von drei weiteren Frauen, denen die Bekanntschaft mit ihm nicht gut bekommen ist.

 

Herrgott, vor mir sitzt ein fünffacher Mörder, der denkt, ich bin an meine Schweigepflicht gebunden! Bin ich normalerweise ja auch, aber wenn Gefahr für Leib und Leben anderer besteht, dann ist das natürlich nicht mehr der Fall; bei Mord sicher auch. Aber das kann ich ihm natürlich in diesem Moment nicht sagen. Himmel, wer konnte denn auf so was kommen?

 

 

 

Überhaupt, was will er von mir? Etwa Verständnis oder sogar Absolution? Dann sollte er es besser in der Kirche versuchen!

 

Doch dann höre ich den Satz, der mir endgültig das Blut in den Adern gefrieren lässt.

 

„Frau Dr. Löns, ich würde Sie sehr gern einmal zum Essen einladen, wir verstehen uns doch so gut!“