Im Homeoffice

 

Bedingt durch die Corona-Pandemie arbeitete ich für meine Firma jetzt schon einige Monate lang im Homeoffice. Um ehrlich zu sein, so langsam ging es mir wirklich auf die Nerven. Die Kollegen, mit denen ich mich gut verstand, fehlten mir sehr. Und überhaupt mag ich meine vier Wände zwar gern, aber nicht, wenn ich mich darin eingesperrt fühle. So hatte ich schon häufiger über die Möglichkeit nachgedacht, mir ein Haustier anzuschaffen, denn ich lebe allein. Aber was wäre, wenn ich demnächst wieder täglich von 8.00 bis 16.00 Uhr an meinem Schreibtisch im Büro der Firma sitzen würde? Als Kind hatte ich einen Hund, den ich sehr geliebt habe. Er hat mich lange Jahre hindurch treu begleitet, und nachdem ich ihn verloren hatte, mochte ich mir den Schmerz den sein Tod in mir ausgelöst hatte, auf keinen Fall noch einmal antun. Nun aber spukte der Wunsch nach einem vierbeinigen Gefährten zwischendurch immer wieder durch meine Gedanken und ließ mich einfach nicht mehr los. Dann griff das Schicksal unterwartet ein und nahm mir die Entscheidung ab. Es war ein Freitagabend und ich stellte mit Entsetzen fest, dass ich so gut wie nichts mehr im Kühlschrank hatte. Der Supermarkt in der Nähe hatte noch geöffnet. Normalerweise käme es mir nie in den Sinn kurz vor Ladenschluss einzukaufen, aber in dieser Situation musste es sein,  und bis zum nächsten Morgen wollte ich keinesfalls warten. Außerdem nahm ich an, dass der Laden um diese Uhrzeit sicher nicht mehr so voll sein würde. Ich fand es schon schlimm genug, mich nur mit Maske dort aufhalten zu können, aber noch mehr erschreckte mich die Aussicht auf eine lange Warteschlange an der Kasse. Daher bemühte ich mich meine Einkäufe möglichst zu erledigen, wenn nicht allzu viele Kunden im Laden zu erwarten waren, das hieß entweder morgens sehr zeitig oder in der Mittagsstunde. Irgendwie hatte ich das an diesem Wochenende verpasst – zum Glück, wie sich herausstellen sollte. Als ich eilig aus dem Auto stieg, sah ich, dass neben den Einkaufswagen ein Hund angeleint war. Das war ja nichts Besonderes, also dachte ich mir nichts dabei. Es war ein hübsches Tier mit hellbraunem, dichten Fell, das an den Rändern der Ohren dunkler war. Der Hund schaute mich aus großen Augen an und kam auf mich zu, soweit seine Leine das zuließ. Spontan beugte ich mich zu ihm hinunter und streichelte ihn. Vor Begeisterung wedelte er heftig mit seiner langen Rute. Sicher war es ein Mischling, aber mir gefiel er sehr, außerdem schien er äußerst freundlich zu sein. Aber viel zu mager war er, fand ich. Nun, das war wohl nicht meine Sache.

„Na, Du bist ja ein ganz Lieber!“, lobte ich ihn. „Bestimmt ist Dein Herrchen oder Dein Frauchen sehr stolz auf Dich.“

Dann streichelte ich ihn noch einmal und betrat den Supermarkt. Schnell lief ich durch die Regale und lud meinen Einkaufswagen voll. Geschafft!  Das Wochenende konnte kommen und auch zu Beginn der kommenden Woche hätte ich noch genug Vorräte, um ein oder zwei Tage lang auf das Einkaufen verzichten zu können. Während ich meine Lebensmittel zusammensuchte, traf ich tatsächlich keinen einzigen  Kunden mehr im Laden, und auch an der Kasse war niemand vor mir. Daher fragte ich die Kassiererin ob sie wüsste wem der Hund gehören mochte. Sie schaute mich an und antwortete mitleidig: „Meinen Sie den, der schon seit heute mittag neben den Einkaufswagen hockt? Wir haben ihm vorhin etwas Wasser hingestellt. Ist der immer noch da?“

Stimmt, der halb volle Wassernapf war mir ebenfalls aufgefallen, aber ich hatte mir nichts dabei gedacht.

„Wollen Sie mir erzählen, dass dieses arme Tier schon seit Stunden darauf wartet von irgendjemandem abgeholt zu werden?“

„So ist es wohl, leider“, bestätigte mir die freundliche Frau an der Kasse.

Ich rang nach Luft. Das durfte doch nicht wahr sein!

„Moment mal“, antwortete ich. „Sie haben sicher gleich Feierabend. Was wird dann mit ihm?“

„Ich habe eine Katze. Ich kann ihn nicht aufnehmen. Und meine Kollegen wollen ihn auch nicht haben. Der Marktleiter wird ihn wohl morgen im Tierheim abgeben müssen.“

„Nein“, sagte ich entschlossen. „Bitte, kann ich Ihren Chef sprechen?“

„Klar“, sagte sie und griff zum Telefon.

Der erschien auch prompt.

„Um was geht es?“, fragte er.

„Um den Hund, der schon seit Stunden draußen angeleint ist, wie ich höre“, begann ich, wurde aber von ihm unterbrochen: „Kennen Sie ihn und wissen Sie, wem er gehört?“

„Nein, aber ich würde ihn gern mitnehmen, wenn Sie gestatten. Er kann  ja nicht hier bleiben. Ich hatte früher selbst einen Hund und er scheint mich zu mögen.“

Der Mann schaute mich einen Augenblick prüfend an, bevor er entgegnete: „Wenn Sie mir Ihre Anschrift und Telefonnummer hinterlassen, dann können Sie ihn mitnehmen. Aber falls sich wider Erwarten noch jemand meldet dem er gehört, dann muss ich Ihre Adresse herausgeben. Wären Sie damit einverstanden?“

„Natürlich, das ist doch selbstverständlich. Außerdem werde ich mit ihm zu einem Tierarzt gehen, um nachsehen zu lassen ob er gechippt ist. Eine Hundemarke trägt er jedenfalls nicht, soweit ich vorhin gesehen habe. Aber in dem Fall muss ich unbedingt noch Hundefutter kaufen.“

Inzwischen waren einige Verkäuferinnen schon eine ganze Weile dabei die verderblichen Sachen fort zu räumen, um sich auf den ersehnten Feierabend vorzubereiten. Die zweite Kasse nebenan war sogar schon geschlossen.

„Ich bin wirklich froh die Verantwortung für das Tier los zu sein. Kaufen Sie in aller Ruhe was sie für den Hund benötigen“, versicherte mir der Marktleiter. Dann verabschiedete er sich und wünschte mir und meinem Schützling ein schönes Wochenende. Auch die Dame an der Kasse versprach mir solange zu warten, bis ich alles Nötige eingekauft hatte.

„Im dritten Gang ganz hinten finden Sie das Tierfutter“, rief sie mir nach, als ich los rannte, um schnell ein paar Dosen Hundefutter und mehrere Leckerlistangen zu holen. Alles andere konnte warten, fand ich. Außer Atem kam ich wenig später wieder, um den Rest meiner Einkäufe zu bezahlen.

„Vielen Dank für Ihr Verständnis“, sagte ich zum Abschied.

Die Kassiererin nickte.

„Wir haben zu danken, Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Mir tut die arme Kleine ja auch leid. Ich denke, es ist eine Hündin, wissen Sie. Wenn Sie mich fragen, dann fürchte ich, man hat sie absichtlich hier ausgesetzt.“

Und das kurz vor Weihnachten, ich mochte es kaum glauben. Als ich wieder nach draußen kam, wedelte die Hündin wieder mit dem Schweif und lief erneut auf mich zu.

„Ich nehme Dich mit, keine Angst“, versprach ich ihr.

Dann löste ich ihre Leine und sie lief ganz brav neben mir her zum Auto. Als ich die Beifahrertür für sie öffnete, sprang sie ohne zu zögern hinein und machte es sich bequem. Gerade so, als hätte sie es nie anders gekannt. Nachdem ich meine Lebensmittel im Kofferraum verstaut hatte, fuhren wir zurück nach Hause.

 

Es wurde ein wunderbares Wochenende, und ich hoffte von ganzem Herzen, dass der Tierarzt kein Erkennungszeichen an meiner neuen Lebensgefährtin finden würde. Ihr einen Namen zu geben, das erschien mir allerdings verfrüht, bevor ich nicht wusste, ob ich sie behalten konnte. Am Montag rief ich ihm Büro an und beantragte einen Tag Urlaub, um die Sache zu klären. Kurz vor Mittag hatte ich einen Termin in der Tierarztpraxis erhalten und fuhr mit klopfendem Herzen dorthin. Zu unser aller Erleichterung stellte sich heraus, dass meine kleine Hündin zwar etwas vernachlässigt zu sein schien, was man an ihrem struppigen Fell und ihrer Magerkeit deutlich erkennen konnte, aber ansonsten war sie kerngesund. Und es fand sich weder eine Tätowierung noch ein Chip in ihrem Körper, daher konnte ich sie guten Gewissens behalten. Meine Erleichterung war grenzenlos. Gerade in diesem Jahr hatte ich mit Schrecken an das bevorstehende Weihnachtsfest gedacht, denn wie sonst im Kreise meiner Freunde zu feiern, das kam ja leider nicht infrage. Nun war plötzlich alles ganz anders, Corona hin oder her. Und für die Zeit danach würde sich gewiss auch eine Lösung finden, vielleicht konnte ich die Kleine ja sogar mit ins Büro nehmen. Sie war so brav, das gäbe sicher keine Probleme. Fehlte nur noch ein Name für die junge Dame, aber ich war sehr zuversichtlich dass ich auch dieses Problem schnellstens lösen würde.