Brigitta Rudolf:

 

In der Nacht, als das Sandmännchen schlief 

 

 

Das kleine Papierfresserchen

 

Das kleine Papierfresserchen wohnte bei einer Schriftstellerin. Dort hatte es ein wunderbares Leben. Die Frau hatte viele Einfälle und kritzelte mit ihrer großen Schrift täglich etliche Seiten voll, die sie dann in ihren Computer übertrug. Oft gefielen ihr die Geschichten aber auch nicht, und sie änderte sie oder schrieb ganz neue. So hatte das Papierfresserchen mehr als reichlich zu fressen. Aber eines Tages saß die Frau an ihrem Schreibtisch, stützte den Kopf in die Hände und klagte: „Nun habe ich schon so viele Geschichten geschrieben, jetzt mir fällt einfach nichts mehr ein.“

Das Papierfresserchen konnte kaum glauben was es hörte. Nein, das durfte nicht wahr sein! Wenn die Frau keine Seiten mehr fortwarf, wovon sollte es dann satt werden? Es gab eine Menge Bücher im Haus, aber das Papierfresserchen wusste, daran durfte es sich nicht vergreifen, das würde bestimmt großen Ärger geben. Das arme kleine Papierfresserchen war vollkommen ratlos und hoffte, dass die Schreibblockade der Frau recht bald aufhören würde. Noch hatte sie eine ganze Kiste voll „Schmierpapier“, wie sie es nannte, aber ohne Nachschub würde dieser Stapel schnell kleiner werden und schließlich ganz aufgebraucht sein. Und was dann? Womöglich hätte es dann gar nichts mehr zu essen, befürchtete das kleine Papierfresserchen. Aber was konnte es tun?

So vergingen einige Wochen, und die Schriftstellerin wurde immer verzweifelter. Ihr fiel einfach nichts mehr ein, was sie hätte zu Papier bringen können.  Der Stapel mit ihren weggeworfenen Notizen nahm seltsamerweise immer mehr ab. Das fiel ihr zwar auf, aber sie dachte sich nicht viel dabei. Eines schönen Tages schaute sie sich einige ihrer alten Geschichten noch einmal an. Eigentlich hatte sie die schon aussortiert, weil sie ihr nicht so recht gefielen. Nun hoffte sie, dadurch auf neue Ideen zu kommen. Aber auch das half ihr nicht weiter.

 

Es ist aus, dachte sie. Ich kann einfach nicht mehr richtig schreiben. Darüber war sie unglaublich traurig. Sie war ja noch nicht sehr bekannt, aber das Schreiben bedeutete ihr dennoch unendlich viel, und es gab ja auch einige Menschen, denen gefielen ihre Bücher. Die hatten sie gekauft und der Autorin Mut gemacht, weiter zu schreiben. Mit jedem Tag der verging wurde sie trauriger. Sie mochte kaum etwas essen, hatte keinen Durst und wäre am liebsten morgens gar nicht aufgestanden. Sie tat dem Papierfresserchen richtig leid. Es machte sich inzwischen nicht nur um sich selbst große Sorgen, sondern auch um die Frau. Es kannte sie schon lange und hatte sie im Laufe der Zeit sehr liebgewonnen.

Dann hatte das kleine Papierfresserchen eines Tages eine großartige Idee. Es wusste, dass alle Autoren Fantasie brauchen, um gute Geschichten zu verfassen. So griff das Monsterchen zum Äußersten was ihm einfiel und zeigte sich seiner Freundin. Die saß wieder einmal an ihrem Schreibtisch, hatte ein leeres, weißes Blatt vor sich und hielt einen Stift in der Hand. Schon seit Stunden rang sie nun verzweifelt um eine  eine Inspiration. Sie wusste, schon viele Schreiberlinge hatten eine Phase gehabt, in denen ihnen absolut nichts einfallen wollte. Sogar ganz berühmte Schriftsteller litten gelegentlich darunter. Bei den meisten war das irgendwann wieder vorbei gegangen. Aber je länger diese Zeit dauerte, desto schwieriger war diese Unfähigkeit zu ertragen. Bis dahin hatte die Autorin nicht gewusst, dass sie längst nicht mehr allein in ihrem Haus lebte. Daher staunte sie sehr, als plötzlich dieses seltsame Geschöpf vor ihren Augen auf und ab hüpfte und ihr fröhlich zuwinkte. Was war das denn? Träumte sie etwa? Oder tanzte  tatsächlich ein wild gewordener Knirps auf ihrem Schreibtisch? Er hatte einen ovalen, grauen Körper, auf dem ein rundes Köpfchen mit riesigen Augen saß. Die bunten Haare des zierlichen Kobolds standen in alle Richtungen vom Kopf ab, was ihm ein äußerst verwegenes Aussehen verlieh. Seine Arme und Beine waren zwar recht dünn, aber dennoch unglaublich beweglich. Unwillkürlich musste die Schriftstellerin lachen. Das wiederum freute das kleine Papierfresserchen außerordentlich, und es gab sich noch mehr Mühe Heiterkeit zu verbreiten. Schließlich wurde es müde und sank in sich zusammen. Aus seinen großen Augen sah es die Frau erwartungsvoll an. Die strahlte über das ganze Gesicht.

„Danke“, sagte sie. „Vielen lieben Dank, wer immer Du auch bist. Ich werde ein Märchen schreiben. Das habe ich noch nie gemacht, aber manchmal sollte man als Autor auch unbekannte Wege beschreiten. Vielleicht werde ich damit sogar Erfolg haben, wer weiß.“

Das kleine Papierfresserchen war sehr mit sich zufrieden. Es sah mit Vergnügen, wie der Stift seiner Ernährerin nur so über das Blatt zu flitzen schien. Schnell füllte sich Seite um Seite. Es wusste, in Zukunft würde es sich keine Sorgen mehr um seine Existenz machen müssen.

 

Susi Menzel:

Emmi, das Mühlengespenst    2023-02-12

 

Emmi schaute sich gähnend um. Das Gebälk der Windmühle Meißen, in dem sie wohnte, strahlte in der Morgensonne hellbraun. Ein Luftzug wehte durch das Fenster herein und kitzelte sie an der Nase, weshalb sie lachen musste.

 

Sie sprang aus ihrem Erdbeerkörbchen heraus. Diesen viereckigen Spankorb hatte Gabi, die Menschenfrau, der die Mühle gehörte, mit etwas Stroh und einer kleinen, weichen Decke ausgelegt, sodass sie ein prima Bett hatte.

Gerade als sie sich ausgiebig gerekelt hatte, flog Frau Schwalbe durch das Fenster herein, um ihre Jungen im oberen Stockwerk zu füttern. Sobald sie ihre Mutter hörten, stimmten die Kleinen in ihrem Nest ein ohrenbetäubendes Schreikonzert an: „Ich“ „Nein ich“ „Ich habe Hunger“ „Geh weg, ich verhungere“ „Ich“ „Nein ich“.

 

 

Emmi musste sich die Ohren zuhalten, so laut war es. Frau Schwalbe nahm sich auf dem Rückweg ein paar Minuten Zeit und erzählte vom Wetter. Es sei sonnig, die Insekten flögen sehr hoch, also bliebe das Wetter schön.

 

Das war gut!

Emmi strich ihr weißes Kleid zurecht. Dann konnte sie heute ihre Idee in die Tat umsetzen und sich für alle Menschen und nicht nur allein für die Müllerin sichtbar machen. Endlich sollten die Menschen ihr schönes weißes Kleid bewundern, so wie sie es taten, wenn die Menschen unten in der Mühle heirateten. Da gab es jedes Mal ein Aaah und Ooooh, wenn die Braut ankam und ihr weißes Kleid glattstrich, bevor sie zu ihrem zukünftigen Ehemann in die Mühle hinein ging.

Emmi wollte zwar nicht heiraten, aber bewundert werden, das wollte sie unbedingt. Heute war nur eine Trauung vorgesehen, nämlich die der Müllerstochter Mareike. Und Emmi wusste, dass auch sie ein wunderschönes Kleid tragen würde, das von allen bewundert werden würde.

Zwar hatte Emmis Bruder Thommy ihr davon sehr von dieser Idee abgeraten, weil er wusste, dass sich Menschen vor richtigen Gespenstern fürchteten. Außerdem durften sich Mühlengespenster nur im Notfall allen Menschen zeigen. Und die Hochzeit der Müllerstochter war eindeutig keiner.

Aber Emmi sah das anders. Sie empfand es als Notfall, weil sie endlich auch ihr wunderschönes weißes Gewand zeigen wollte, sodass es die Menschen bewundern konnten. Thommy zuckte nur mit den Achseln. Er wusste, dass seine kleine Schwester sowieso tat, was sie wollte. Und schließlich musste sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Er brummelte ein „Wie du meinst“ und schwebte zu seinen Freunden, die in der Wassermühle an der Weser auf ihn warteten.

 

Für Emmi war es klar: Heute war der Tag, an dem sie sich allen Menschen zeigen wollte und ihnen zeigen konnte, dass es Gespenster wirklich gab und dass sie sogar gut angezogen waren.

Nachdem die Trauung der Müllerstochter vollzogen war, versammelten sich alle Gäste hinter der Mühle, um dem Brautpaar zu gratulieren.

 

 

Das war Emmis Einsatz! Als sie in ihrer vollen Gestalt von etwa zwanzig Zentimeter Größe sichtbar geworden war, schwebte sie zur Braut, um ihr ebenfalls zu gratulieren. Und sie freute sich schon auf die bewundernden Aaahs und Ooohs der Menschen, die ihr Kleid bestaunten. Stattdessen hörte sie plötzlich Schreie hinter sich. Panik kam auf, die Frauen kreischten entsetzlich laut und rannten in die Mühle hinein. Einige stolperten, andere blieben mit ihren Stöckelschuhen in der Wiese stecken, eine Frau fiel, wurde aber von dem Bräutigam Sven aufgefangen, der sehr schnell reagiert hatte und losgespurtet war. Die Frau schrie im Fallen angstvoll: „Da, da ist ein Gespenst!!!“

Emmi war entsetzt. Die meisten Gäste kannten doch die Geschichten von dem kleinen Mühlengespenst, die Gabi so oft erzählte. Warum waren sie jetzt so überrascht, das Gespenst tatsächlich zu sehen?

Die Müllerstochter starrte Emmi an, blieb aber stocksteif stehen.

Sie stotterte: „Gibt es dich wirklich?“

„Natürlich“, stammelte Emmi „Äh und herzlichen Glückwunsch. Du hast ein wunderschönes Kleid.“ „Danke du auch“, hauchte die Müllerstochter irritiert. Dann sagte sie leise: „Ich weiß zwar von dir, habe es aber bisher nicht geglaubt, dass es dich wirklich gibt. Nur …“, sie sah sich unruhig um, „es ist vielleicht nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, dich jetzt zu zeigen.“

Emmi hatte sich umgedreht und sah, dass alle geflüchtet waren. Plötzlich kam eine Frau schreiend aus der Mühle herausgerannt. Sie hatte einen Besen in der Hand und rannte auf Emmi zu, um sie zu schlagen. Emmi schrie nun ebenfalls auf, war aber schneller als der Besen. Sie versteckte sich blitzschnell hinter Gabi, deren roter Rock breit genug war, sie zu verdecken.

„Versteck dich schnell oben in der Mühle und mach dich wieder unsichtbar“, raunte ihr Gabi zu. Emmi flog den Mühlenwall hinauf und dann hinter dem Mühlenflügel hinauf zu dem Nest der Schwalben. Enttäuscht schaute sie herunter auf die Hochzeitsgesellschaft, die sich langsam beruhigte und von einer Sinnestäuschung sprach. Wer glaubte denn schon ernsthaft an Gespenster? Nur die Frau mit dem Besen blieb dabei, dass sie ein Gespenst gesehen hätte. Die anderen Gäste meinten irgendwann, dass sie wohl ein wenig zu tief in ihr Glas geschaut hätte, denn Gespenster gab es einfach nicht, konnte es einfach nicht geben!!! Und als die Hochzeitskutsche mit ihren zwei herrlichen Rappen das Brautpaar zu einer Fahrt abholte, sprach von dem Gespenst niemand mehr.

 

 

Einige Tage später gingen Gabi und Mareike hinauf in die Mühle.

„Jetzt weißt du ja, dass es das Gespenst wirklich gibt, auch wenn es dein Mann nicht gesehen hat, weil er die Frau aufgefangen hat. Du hast es gesehen. Ab jetzt wirst du es immer sehen können, wenn Emmi es möchte.“

Obwohl die Müllerstochter immer noch ein wenig skeptisch war, bedankte sie sich bei Emmi für die Glückwünsche und ihren Mut, sich allen zu zeigen. Emmi huschte um die beiden herum, sodass sie einen Luftzug spürten. Dann zeigte sie sich den beiden Frauen, die ihr weißes Kleid gebührend bewunderten, während sich Emmi fröhlich mehrfach um sich selbst herum drehte, sodass das Kleid prächtig aufgeplustert wurde. Sie lachten gemeinsam und dann gingen alle zufrieden schlafen …

 

Ein Jahr später wurde Tilda geboren. Emmi zeigte sich der Tochter von Mareike von Anfang an. Das ging ohne Probleme, denn kleine Kinder hatten keine Angst vor kleinen Gespenstern. Und so überdauerten die Geschichten der Mühlengespenster die Jahrhunderte, obwohl nur sehr wenige Menschen sie je wirklich gesehen haben.

 

 

Die Windmühle Meißen mit Freundschere

 

Susi Menzel, 14. Februar 2023