2 Leseproben:

1. Susi Menzel - Emmi das Mühlengespenst

2. Brigitta Rudolf - Begegnung auf der Schiffmühle

 

 

 Susi Menzel:

Emmi, das Mühlengespenst    2023-02-12

 

Emmi schaute sich gähnend um. Das Gebälk der Windmühle Meißen, in dem sie wohnte, strahlte in der Morgensonne hellbraun. Ein Luftzug wehte durch das Fenster herein und kitzelte sie an der Nase, weshalb sie lachen musste.

 

Sie sprang aus ihrem Erdbeerkörbchen heraus. Diesen viereckigen Spankorb hatte Gabi, die Menschenfrau, der die Mühle gehörte, mit etwas Stroh und einer kleinen, weichen Decke ausgelegt, sodass sie ein prima Bett hatte.

Gerade als sie sich ausgiebig gerekelt hatte, flog Frau Schwalbe durch das Fenster herein, um ihre Jungen im oberen Stockwerk zu füttern. Sobald sie ihre Mutter hörten, stimmten die Kleinen in ihrem Nest ein ohrenbetäubendes Schreikonzert an: „Ich“ „Nein ich“ „Ich habe Hunger“ „Geh weg, ich verhungere“ „Ich“ „Nein ich“.

 

 

Emmi musste sich die Ohren zuhalten, so laut war es. Frau Schwalbe nahm sich auf dem Rückweg ein paar Minuten Zeit und erzählte vom Wetter. Es sei sonnig, die Insekten flögen sehr hoch, also bliebe das Wetter schön.

 

Das war gut!

Emmi strich ihr weißes Kleid zurecht. Dann konnte sie heute ihre Idee in die Tat umsetzen und sich für alle Menschen und nicht nur allein für die Müllerin sichtbar machen. Endlich sollten die Menschen ihr schönes weißes Kleid bewundern, so wie sie es taten, wenn die Menschen unten in der Mühle heirateten. Da gab es jedes Mal ein Aaah und Ooooh, wenn die Braut ankam und ihr weißes Kleid glattstrich, bevor sie zu ihrem zukünftigen Ehemann in die Mühle hinein ging.

Emmi wollte zwar nicht heiraten, aber bewundert werden, das wollte sie unbedingt. Heute war nur eine Trauung vorgesehen, nämlich die der Müllerstochter Mareike. Und Emmi wusste, dass auch sie ein wunderschönes Kleid tragen würde, das von allen bewundert werden würde.

Zwar hatte Emmis Bruder Thommy ihr davon sehr von dieser Idee abgeraten, weil er wusste, dass sich Menschen vor richtigen Gespenstern fürchteten. Außerdem durften sich Mühlengespenster nur im Notfall allen Menschen zeigen. Und die Hochzeit der Müllerstochter war eindeutig keiner.

Aber Emmi sah das anders. Sie empfand es als Notfall, weil sie endlich auch ihr wunderschönes weißes Gewand zeigen wollte, sodass es die Menschen bewundern konnten. Thommy zuckte nur mit den Achseln. Er wusste, dass seine kleine Schwester sowieso tat, was sie wollte. Und schließlich musste sie ihre eigenen Erfahrungen machen. Er brummelte ein „Wie du meinst“ und schwebte zu seinen Freunden, die in der Wassermühle an der Weser auf ihn warteten.

 

Für Emmi war es klar: Heute war der Tag, an dem sie sich allen Menschen zeigen wollte und ihnen zeigen konnte, dass es Gespenster wirklich gab und dass sie sogar gut angezogen waren.

Nachdem die Trauung der Müllerstochter vollzogen war, versammelten sich alle Gäste hinter der Mühle, um dem Brautpaar zu gratulieren.

 

 

Das war Emmis Einsatz! Als sie in ihrer vollen Gestalt von etwa zwanzig Zentimeter Größe sichtbar geworden war, schwebte sie zur Braut, um ihr ebenfalls zu gratulieren. Und sie freute sich schon auf die bewundernden Aaahs und Ooohs der Menschen, die ihr Kleid bestaunten. Stattdessen hörte sie plötzlich Schreie hinter sich. Panik kam auf, die Frauen kreischten entsetzlich laut und rannten in die Mühle hinein. Einige stolperten, andere blieben mit ihren Stöckelschuhen in der Wiese stecken, eine Frau fiel, wurde aber von dem Bräutigam Sven aufgefangen, der sehr schnell reagiert hatte und losgespurtet war. Die Frau schrie im Fallen angstvoll: „Da, da ist ein Gespenst!!!“

Emmi war entsetzt. Die meisten Gäste kannten doch die Geschichten von dem kleinen Mühlengespenst, die Gabi so oft erzählte. Warum waren sie jetzt so überrascht, das Gespenst tatsächlich zu sehen?

Die Müllerstochter starrte Emmi an, blieb aber stocksteif stehen.

Sie stotterte: „Gibt es dich wirklich?“

„Natürlich“, stammelte Emmi „Äh und herzlichen Glückwunsch. Du hast ein wunderschönes Kleid.“ „Danke du auch“, hauchte die Müllerstochter irritiert. Dann sagte sie leise: „Ich weiß zwar von dir, habe es aber bisher nicht geglaubt, dass es dich wirklich gibt. Nur …“, sie sah sich unruhig um, „es ist vielleicht nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, dich jetzt zu zeigen.“

Emmi hatte sich umgedreht und sah, dass alle geflüchtet waren. Plötzlich kam eine Frau schreiend aus der Mühle herausgerannt. Sie hatte einen Besen in der Hand und rannte auf Emmi zu, um sie zu schlagen. Emmi schrie nun ebenfalls auf, war aber schneller als der Besen. Sie versteckte sich blitzschnell hinter Gabi, deren roter Rock breit genug war, sie zu verdecken.

„Versteck dich schnell oben in der Mühle und mach dich wieder unsichtbar“, raunte ihr Gabi zu. Emmi flog den Mühlenwall hinauf und dann hinter dem Mühlenflügel hinauf zu dem Nest der Schwalben. Enttäuscht schaute sie herunter auf die Hochzeitsgesellschaft, die sich langsam beruhigte und von einer Sinnestäuschung sprach. Wer glaubte denn schon ernsthaft an Gespenster? Nur die Frau mit dem Besen blieb dabei, dass sie ein Gespenst gesehen hätte. Die anderen Gäste meinten irgendwann, dass sie wohl ein wenig zu tief in ihr Glas geschaut hätte, denn Gespenster gab es einfach nicht, konnte es einfach nicht geben!!! Und als die Hochzeitskutsche mit ihren zwei herrlichen Rappen das Brautpaar zu einer Fahrt abholte, sprach von dem Gespenst niemand mehr.

 

 

Einige Tage später gingen Gabi und Mareike hinauf in die Mühle.

„Jetzt weißt du ja, dass es das Gespenst wirklich gibt, auch wenn es dein Mann nicht gesehen hat, weil er die Frau aufgefangen hat. Du hast es gesehen. Ab jetzt wirst du es immer sehen können, wenn Emmi es möchte.“

Obwohl die Müllerstochter immer noch ein wenig skeptisch war, bedankte sie sich bei Emmi für die Glückwünsche und ihren Mut, sich allen zu zeigen. Emmi huschte um die beiden herum, sodass sie einen Luftzug spürten. Dann zeigte sie sich den beiden Frauen, die ihr weißes Kleid gebührend bewunderten, während sich Emmi fröhlich mehrfach um sich selbst herum drehte, sodass das Kleid prächtig aufgeplustert wurde. Sie lachten gemeinsam und dann gingen alle zufrieden schlafen …

 

Ein Jahr später wurde Tilda geboren. Emmi zeigte sich der Tochter von Mareike von Anfang an. Das ging ohne Probleme, denn kleine Kinder hatten keine Angst vor kleinen Gespenstern. Und so überdauerten die Geschichten der Mühlengespenster die Jahrhunderte, obwohl nur sehr wenige Menschen sie je wirklich gesehen haben.

 

 

Die Windmühle Meißen mit Freundschere

 

 

Susi Menzel, 14. Februar 2023

 

 

 

Brigitta Rudolf:

Begegnung auf der Schiffmühle

 

Nach einer großen Enttäuschung wollte ich einen kompletten Neuanfang wagen und mich deshalb von meiner bayrischen Heimat verabschieden, um mein Glück woanders, möglichst weit weg, zu suchen. Die wichtigste Voraussetzung dafür war zunächst einmal, einen guten Job zu finden. Dabei stieß ich im Internet auf eine große Firma, die im sogenannten Mühlenkreis Minden-Lübbecke ansässig ist. Um ehrlich zu sein, ich musste erst mal recherchieren, wo genau dieses Fleckchen Erde zu finden war. Dabei stellte ich fest, es liegt im äußersten Zipfel Nordrhein-Westfalens. Von München aus ins Westfälische zu wechseln, das erschien mir durchaus reizvoll. Und weit genug fort von meiner ehemaligen großen Liebe und unserem Freundeskreis, der ohnehin überwiegend aus ihren Bekannten bestand, war es auch. Warum also nicht, sagte ich mir. Dann schaute ich mir die Stadt Minden und das Umland im Computer erst mal genauer an. Ich war erstaunt, wie viel es dort in der Provinz zu entdecken gab. Zahlreiche Ausflugsziele lagen in erreichbarer Nähe, wie zum Beispiel das imposante Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Porta-Westfalica. Außerdem hatte sich der rebellische Sachsenherzog Widukind im Wiehengebirge aufgehalten, bevor er sich am Ende Kaiser Karl, den man später den Großen nennen sollte, unterwarf. Irgendwo dort in der Gegend soll ein Treffen zwischen den beiden stattgefunden haben, bei dem sie das Land an der Weser unter sich aufgeteilt haben. Angeblich soll so der Name Minden (Mien und Dien) entstanden sein, las ich. Die Kurstadt Bad Oeynhausen kannte ich aus den Verkehrsnachrichten. Besonders interessant fand ich, dass es in dieser Region zahlreiche Windmühlen zu bestaunen gab, die haben mich schon immer fasziniert. Kurzerhand bewarb ich mich bei dieser Firma und erhielt wenige Tage später eine Aufforderung zu einem Vorstellungsgespräch. Ich setzte mich also in mein Auto und fuhr gen Norden. Schon der erste Eindruck der Gegend gefiel mir. Die liebliche Landschaft, zum großen Teil ländlich geprägt, erschien mir recht ansprechend und so hoffte ich, die ausgeschriebene Stelle zu erhalten. Zu meiner Freude bekam ich tatsächlich den Zuschlag und fand auch, mithilfe eines netten Kollegen, schnell eine passende, kleine Wohnung. Nachdem ich mich ein wenig eingelebt hatte, wollte ich auch die Umgebung erkunden und fragte Horst, welche Ausflugsziele ich mir zuerst anschauen sollte.

„Natürlich das Kaiser-Wilhelm-Denkmal und die Residenzstadt Bückeburg mit dem wunderschönen Schloss. Das Gebäude ist ein Kleinod aus der Zeit der Weserrenaissance. Die fürstliche Hofreitschule, der Park und vor allem die prächtig möblierten Innenräume des Schlosses selbst sind sehenswert. Die Windmühle in Meißen ist auch ganz in der Nähe; da kann man sogar heiraten. Und natürlich unsere Schiffmühle, die solltest Du Dir unbedingt ansehen. Das ist etwas ganz Besonderes. Schiffmühlen gibt es nur noch wenige“, schwärmte Horst. „Wir können nach Feierabend dort im Sommergarten gegenüber der Schiffmühle zusammen ein Bier trinken. Der Blick auf den Fluss wird Dir bestimmt gefallen! Ich lade Dich ein.“

Dieses freundliche Angebot nahm ich gern an. Er hatte recht, die Schiffmühle, die unmittelbar in der Nähe der Innenstadt am Ufer der Weser geankert ist, fand ich absolut sehenswert.

„Hier finden auch Veranstaltungen statt, wie Konzerte, Lesungen oder die Forellen- und Matjestage. Dann ist immer mächtig was los“, informierte Horst mich, als wir zwei Tage später in dem Biergarten an der Weser saßen.

„Ein idyllisches Fleckchen Erde ist das hier“,  fand ich, und Horst nickte zufrieden.

Für eine Besichtigung der Mühle war es an dem Tag leider schon zu spät, aber ich nahm mir vor, am Wochenende noch einmal herzukommen, um mir die Schiffmühle auch von innen anzusehen.

Das sonnige Wetter hatte an dem Tag etliche Besucher angelockt. Eine hübsche junge Dame fiel mir auf, die einen kleinen Jungen bei sich hatte, der sehr lebhaft und vor allem wissbegierig zu sein schien. Er stellte viele Fragen, die seine Mutter ihm, so gut sie konnte, beantwortete.

„Ihr Sohn ist ein aufgewecktes Kerlchen“ stellte ich lächelnd fest.

„Stimmt, das ist Finn eindeutig, aber er ist nicht mein Sohn, ich bin seine Patentante“, wurde ich informiert.

„Ich finde Mühlen toll“, krähte Finn.

„Ich auch“, gab ich ihm recht.

Sehr ernsthaft erklärte mir Finn die wichtigsten Funktionen der Mühle, und ich staunte, dass so ein kleiner Junge sich so viele Details merken konnte. Da mir seine Patentante ausgesprochen gut gefiel, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte, ob ich sie auf eine Tasse Kaffee einladen dürfe. Nach kurzem Zögern nahm sie meine Einladung an. Also verließen wir die Schiffmühle und gingen in den Biergarten. Dort entdeckte Finn einen anderen Jungen, den er aus der Schule kannte. Sofort lief er auf ihn zu und kehrte wenig später zu uns zurück.

„Darf ich mit Paul spielen?“, fragte er. „Seine Eltern sind auch da.“

Nachdem meine neue Bekannte sich vergewissert hatte, dass die Eltern von Paul nichts dagegen einzuwenden hatten, gab sie ihm die Erlaubnis.

„Wir passen schon auf die beiden Jungs auf“, versicherte Paul´s Vater.

So suchten wir uns ein freies Plätzchen und waren recht schnell in ein intensives Gespräch vertieft. Andrea erwies sich als sehr charmant, und wir entdeckten etliche Gemeinsamkeiten. Natürlich schauten wir hin und wieder zu Finn und Paul herüber, die sich offenbar sehr gut verstanden. Irgendwann fiel uns auf, dass die zwei Jungen noch mal zur Schiffmühe gegangen waren und dort an Deck herumliefen. Als Andrea das sah, wurde sie unruhig, denn von Paul´s Eltern war nichts zu sehen.

„Vielleicht sind sie im Innern der Mühle“, vermutete ich.

Trotzdem bestand Andrea darauf selbst nachzuschauen, und so verließen wir den Biergarten. Zum Glück gerade noch rechtzeitig, denn als wir die Schiffmühle betraten, sahen wir voll Entsetzen, dass Finn inzwischen an einer von außen nicht einsehbaren Stelle auf das Geländer geklettert war und Paul sich ebenfalls anschickte, es ihm gleich zu tun.

„Finn!“, schrie Andrea. „Was machst Du denn? Komm da sofort runter!“

Dann ging alles blitzschnell. Finn hob grüßend die Hand, verlor dabei das Gleichgewicht und stürzte vor unseren entsetzten Augen in die Tiefe.

Andrea schrie auf, und ich überlegte nicht lange, sondern schwang mich ebenfalls über die hölzerne Brüstung und sprang ins Wasser. Prustend tauchte Finn einen Moment später ebenfalls neben mir auf.

„Ich kann doch schwimmen“, meinte er treuherzig, als wir mithilfe von Andrea und einigen anderen Besuchern gemeinsam wieder an Bord kletterten. Den Eltern von Paul war der Zwischenfall äußerst unangenehm. Sie waren noch einmal ins Innere der Schiffmühle gegangen, während die beiden Jungen draußen an Deck blieben.

„Ich habe wirklich gedacht, die beiden sind so vernünftig und turnen nicht auf der Brüstung herum“, entschuldigte sich Paul´s Mutter verlegen.

Auch ihrem Sohn war der Schreck deutlich anzusehen.

Es war zwar Sommer, dennoch hatte Andrea Sorge, dass Finn sich eine arge Erkältung zuziehen würde, wenn er die feuchte Kleidung noch länger am Leib behielte, deshalb bestand sie darauf, sofort mit ihm nach Hause zu gehen.

„Es ist nicht weit, und Sie sollten auch dringend aus den nassen Klamotten raus!“, meinte sie und schlug vor, dass ich sie begleiten und bei ihr duschen könne.

„Mein Bruder und ich haben unser Elternhaus geerbt und wohnen gemeinsam darin. Er kann Ihnen sicher ein paar trockene Sachen leihen.“

Die Idee fand ich ebenfalls gut. Meinen Wagen konnte ich später noch holen, daher stimmte ich zu.

So habe ich Andrea kennengelernt, und nun sind wir schon zwei Jahre lang ein Paar. Wie sie mir gestand, hat ihr mein beherztes Eingreifen, um Finn zu retten, damals sehr imponiert.

„Du warst mir auf den ersten Blick sympathisch, aber als Du – ohne Rücksicht auf Verluste – in voller Montur in den Fluss gesprungen bist, da wusste ich, Du bist der Richtige!“

Im nächsten Sommer wollen wir heiraten; in der Windmühle in Meißen. 

„Dort ist kein Teich in der Nähe, da kann den Hochzeitsgästen nicht viel passieren“, meint Andrea.